how to write about yourself

„To account for“ bedeutet Rechenschaft ablegen. Die Form wird dabei meist durch die Instanz vorgegeben, der gegenüber Rechenschaft abgelegt wird: der Vorstand eines Vereins hat gegenüber der Mitgliederversammlung Rechenschaft abzulegen, Familien, Kollektive und andere „Loyalitätsgemeinschaften“ basieren oft auf einer (mehr oder weniger) freiwilligen gegenseitigen Rechenschaftsverpflichtung. Aber wie sieht es mit autobiographischen Texten aus, wem gegenüber ist die Autorin verpflichtet, welche Fragen muss sie beantworten, welche Schamgrenzen muss sie überschreiten/wahren, wen muss/darf sie schützen?

„If accuracy were all that stories relied on, then it would be enough for anyone to present those facts, and we would not value testimony the way we do.“

„Wenn sich der Wert von Geschichten ausschließlich an der Exaktheit ihrer Darstellung festmachte, würde es ja ausreichen, lediglich die Fakten auf den Tisch zu legen, und das Zeugnisablegen hätte nicht den Wert, den wir ihm beimessen.“

Andrea Pitzer

Das Zitat stammt aus „Death, truth and memoir: the debate about Joyce Carol Oates´ `A widow´s story´“. In ihrem Buch über den Tod ihres Mannes wird Joyce Carol Oates vor allem „the exclusion of material“ vorgeworfen, also, bestimmte Aspekte ausgelassen zu haben. Was im Umkehrschluss den Anspruch beinhaltet, wer autobiographisch schreibe, schulde der Leserin Vollständigkeit (von der Wahrheit ganz zu schweigen). Aber worin besteht autobiographische Vollständigkeit und Wahrhaftigkeit? Wer liefert den Maßstab, der anzulegen wäre, um herauszufinden, ob die Benennung der Zahnputzdauer und Zahnpastamarke relevant gewesen wäre für die Wahrheit, oder ob eher die vollständige Auflistung aller Sexualpartner*innen Aufschluss über die Wahrheit über eine Person gibt?

Was braucht erzählerische Wahrheit?

Wo dient Vollständigkeit der Wahrheit, wo mutiert sie zu Geschwätzigkeit?

Spielt die Raumtemperatur eine Rolle? Ob der Text mit geputzten oder ungeputzten Zähnen geschrieben worden ist?

Dürfen nur Menschen mit Vulven über Vulven schreiben? Und wie verhält es sich mit nicht geborenen Kindern? Wenn Frauen, die keine Kinder geboren haben, über das Kinderkriegen schreiben, dürfen es dann auch Männer?

Muss ein Schmerz erfahren worden sein, um darüber schreiben zu dürfen?

Wie verhält es sich mit der eigenen Interessengeleitetheit: wenn ich weiß, dass die Wahrheit der Realität, die ich gerne hätte, nicht zuträglich ist, erzähle ich sie dann trotzdem? Und wenn ich sie erzähle, die Wahrheit, die mir nicht gefällt, verzichte ich dann auf die Begriffe, die mir widerstreben, oder darauf, mein Widerstreben zu kennzeichnen?

Wem bin ich erzählerisch verpflichtet?

Kann Autofiktion überhaupt Literatur sein, oder ist es reine Nabelschau? Und falls sie Anspruch auf Literarizität erhebt, gibt es dann Ausschlusskriterien, Themen, die auf gar keinen Fall verhandelt werden dürfen? (Thea Dorn zum Beispiel schließt im Literarischen Quartett Therapie als literarisches Sujet aus. Entweder Therapie, dekretiert sie, oder Literatur. Can´t have both.)

My Two Cents

Für mich besteht der Unterschied zwischen einem Memoir/einer Autobiographie und einem (autofiktionalen) Roman in der Montage. In einem autofiktionalen Text positioniere ich Menschen in Situationen und legen ihnen Sätze in den Mund. Denn selbst wenn es 1985 in meinem Leben tatsächlich einen kaputten Rollladen, einen batteriebetriebenen Husky und geklaute Blumen gab, auch wenn die in DRY geschilderten Szenen stattgefunden haben, die darin enthaltenen Sätze gefallen sind, sind sie doch neu gesampled, haben ursprünglich vielleicht zu einer anderen Uhrzeit, zwischen anderen Möbeln und nicht exakt in dieser Konstellation, in diesem Wortlaut stattgefunden. Ein Roman lässt zu, etwas zu erzählen, das wahr ist, ohne dabei alles zu erzählen, was wahr ist. Ein Roman lässt zu, diejenigen herauszulassen, die nicht erzählt werden möchten. Fakten zusammenzutragen ist da eine, erzählerisch Zeugnis abzulegen etwas ganz anderes. Zur juristischen Rekonstruktion eines Tatbestandes taugt dieses Vorgehen nicht. Und trotzdem erzählt es eine Wahrheit.

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