Leipzig. Wo Querdenker Luftballons steigen lassen und ein Staat versagt

In den vergangenen Tagen habe ich mehr über die Stimmenauszählung in den USA und das Wahlverhalten amerikanischer Briefwähler gelernt als je zuvor. Und ich habe einer Demokratie beim Funktionieren zugucken dürfen. Letzten Samstag habe ich mehr darüber gelernt, wie sich eine Demokratie in die Knie zwingen lässt, als mir lieb ist. Diejenigen, denen das gelungen ist, waren nicht allein 20.000 „Querdenker“. Wer sie dazu ermächtigt hat, die Straße mit den Füßen zu treten, sind die Institutionen der Demokratie.

Ich seh´ hier Bilder, wie in der Leipziger Innenstadt Polonaisen zu `Bella Ciao´ getanzt werden als ob Karneval wäre. Zwischendurch ruft jemand `Ausländer raus!´ Keine Polizei zu sehen. – Es macht mich so fassungslos.“

twittert mein Freund M. am Sonntagmorgen. „Es“, das ist die Leipziger „Querdenken“-Kundgebung am 7. November 2020.

Mein Freund M. ist nicht der einzige. Alle schämen sich. Alle gucken auf Sachsen.  Auf Leipzig, wo am Samstag Herzluftballons  in den strahlend blauen Novemberhimmel steigen und harmlos wirkende Menschen in die Innenstadt strömen, während sich durch die Seitenstraßen rund um den Augustusplatz Autokolonnen mit auswärtigen Kennzeichen wälzen. Was die Bilder nicht zeigen, ist das Staatsversagen. Die Tatsache, dass der Staat in Sachsen am 7. November 2020 sein Gewaltmonopol aufgegeben und kapituliert hat. Was die Bilder nicht zeigen, ist der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Bautzen, das die Verlegung der Veranstaltung auf die Neue Messe Leipzig aufgehoben und damit 20.000 Menschen ermöglicht hat, genau das zu tun, wozu sie angetreten waren: dem Staat vor Augen zu führen, dass sie stärker sind als er. Und jetzt gucken alle auf Sachsen und sind entsetzt.

Am Samstag stehe ich an der alten Hauptpost gegenüber vom Augustusplatz, auf der Seite der von „Leipzig nimmt Platz“ organisierten Gegenkundgebung. Ich spreche einen Polizisten an. Auf meine Bitte, einen Teilnehmer auf die Maskenpflicht hinzuweisen, antwortet er schulterzuckend: „Kann ich nicht machen. Eigenschutzgründe. Sie können´s ja selber machen.“ Der Journalist Julius Geiler berichtet, wie die Polizei ihn mit der Ansage an der Berichterstattung hindert, das „Dokumentieren“ sei nicht seine Aufgabe, da man eigene Kräfte mit Kameras vor Ort habe. Die Polizei, die anderen Journalisten Verfahren und Platzverweise androht. Die Polizei, die zulässt, dass aus den Reihen der Querdenker heraus Journalisten angegriffen und zu Boden gestürzt werden. Polizeiketten, die mit Pyrotechnik angegriffen und durchbrochen werden.  Die Polizei, die sich zurückzieht, als Teile der Querdenker ohne Genehmigung um den Leipziger Ring und die Leipziger Innenstadt marschieren und genau die Bilder erschaffen, die sie brauchen.

Wenn ich ehrlich bin: ich hätte mir auch Sachsen ausgesucht. Aber nicht, weil die Menschen hier so herrlich dämlich, demokratie- und menschenfeindlich wären, sondern weil ich hier auf kooperatives Verhalten staatlicher Instanzen und Autoritäten zählen könnte. Wo sonst kann ich mich darauf verlassen, dass ein Oberverwaltungsgericht gestattet, dass sich 20.000 Menschen versammeln, um gegen die vermeintliche Diktatur genau der Auflagen zu demonstrieren, die sie demonstrativ nicht einhalten? Wo sonst kann ich mich darauf verlassen, dass 2.600 Polizeikräfte nicht in der Lage und in Teilen auch gar nicht gewillt sind, die Einhaltung dieser Auflagen durchzusetzen? Wo sonst kann ich mich darauf verlassen, dass ein Polizeisprecher am Ende eines Tages nach schweren Ausschreitungen, gewalttätigen Übergriffen und vollkommen überrannten Einsatzkräften der Polizei für ihren besonnene Einsatz dankt?  Wo sonst kann ich mich auf einen Innenminister verlassen, der am nächsten Tag auf einerPressekonferenz (in der, so MdL Holger Mann, keine Fragen zugelassen waren) behauptet: „Die Polizei hat den friedlichen Verlauf und das Abströmen der Teilnehmer gewährleistet und gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen den Gruppen verhindert.“ Der seine Polizei mit der Aussage deckt, eine Durchsetzung der Auflagen sei „unmöglich gewesen“.

„Unfassbar.“ „Furchterweckend“. „Zum Kotzen“. „Perfider populistischer Schwachsinn.“

So nur einige der Kommentare unter M.s FB-Post. Das Entsetzen teile ich, die Fassungslosigkeit nur bedingt, denn sonst würde ich mich als so naiv wie vergesslich outen. Sachsen hat schon lange eine Vorreiterrolle inne, wenn es darum geht, zu zeigen, wie Demokratie sich aushöhlen lässt, wenn sie nur die richtigen Helfer in den staatlichen Institutionen sitzen hat. Hätte ich Interesse an einer Beendigung der Demokratie, würde ich mir vermutlich auch Sachsen als Versuchsfläche, als Pilotprojekt aussuchen.

 „Seit Jahren waren wir wenigstens in Leipzig immer mehr, immer stärker, immer standhaft gegenüber Legida, AfD & Co. – Heute war ein Wendepunkt. Sie kamen mit Luftballons und Aluhüten, aber sie haben Gewalt gebracht & ihre Macht demonstriert.“, schreibe ich in die Kommentarspalte unter M.s Beitrag.

Und denke daran, wie wir uns politisiert haben in den Jahren seit 2015, als Legida mit sicherem Gespür für Symbolkraft allwöchentlich Montagsdemonstrationen angemeldet und damit die Leipziger Innenstadt lahmgelegt hat.  Legida hat die Leipziger Zivilgesellschaft mit wöchentlichen Gegendemos letztendlich aus der Stadt vertrieben. Schreibt sich so einfach hin, in einem Satz. Aber wie geht das denn, antidemokratische Kräfte zu vertreiben? Haben wir zu den Waffen gegriffen, haben wir sie zu den Toren der Stadt hinausgeprügelt? Nein. Ich bin keine Berufsrevolutionärin, das Protestieren ist mir nicht zugeflogen und ich war so wütend, empört und hilflos, bevor ich den Unterschied zwischen Symbolpolitik und Mobilisierung verstanden habe. Symbolpolitik ist, wenn ich meinen Unmut, meinen Widerspruch oder meine Solidarität über die visuelle Anpassung meines Facebook-Profils  äußere. Mobilisierung ist, wenn es einer „Querdenken“-Bewegung gelingt, an einem Samstag im November 20.000 Menschen in Leipzig zu versammeln, die der Demokratie den Stinkefinger zeigen.

 „Liebe Sächsinnen und Sachsen, so kann es nicht weitergehen“

fordert die Leipziger Autorin Heike Geißler schon im August 2015 in ihrer Antrittsrede als sächsische Ministerpräsidentin. Eine kluge Rede. Ich ahne allerdings, dass sie diejenigen, an die sie sich richtet, nicht erreicht. Genauso wenig, wie mein „Radikaler Vorschlag zu einer Neuordnung des deutschen Volkskörpers“, eine Reaktion auf das damalige AfD-Parteiprogramm, irgendeinen Afd-Anhänger zum Zweifel an seiner Partei veranlasst haben dürfte.

Es gibt diese berühmte Rede von Theodore Roosevelt, in der er denen ein Loblied singt, die nicht von ihren hohen Rängen aus die Kämpfe in der Arena beobachten und darauf warten, dass die da unten im Staub Fehler machen und versagen. Intellektuelle Überlegenheit und Zynismus sitzen gerne auf den hohen Rängen, ich weiß das aus eigener Erfahrung. Und so sehr ich Angst vor der Veröffentlichung dieses Textes habe, so sehr hatte ich Angst vor all diesen Stufen, die mich runter in die Arena geführt haben.

Was haben wir für hilflose Versuche unternommen, den Feinden der Demokratie, die sich selber selten als solche erkennen geschweige denn bezeichnen würden, zu begegnen. Als Legida 2015 um den Ring marschiert, stehen Heike Geißler und ich auf einem Parkplatz an der Strecke und hängen ein Bettlaken mit „Schämt Euch“-Schriftzug in den Baum – unter der Auflage, dafür drei Meter Abstand zur Absperrung zu halten,  um keine Angriffsfläche für die Legida-Demonstranten zu bieten. An einem anderen Montag stehen wir am Gitter an der Thomaskirche und fühlen uns falsch, Sprechchöre mitzubrüllen. Nicht, weil die Inhalte so falsch wären, sondern weil es sich falsch und wirkungslos anfühlt, Menschen anzubrüllen.  Weil klar ist, dass niemand sich schämt, nur weil wir es auf ein Bettlaken schreiben.

Als in Freital der organisierte Mob vor dem ehemaligen Hotel Leonardo aufmarschiert und eine Handvoll zivilgesellschaftlicher Freiwilliger ihren Schutz organisiert, setzen Heike und ich uns mit selbstgebackenen Keksen und einem Haufen Angst in meinen roten Volvo und fahren nach Freital. Auf der Hinfahrt spielen wir verschiedene Szenarien durch. Wo wir das Auto parken. Dass wir vor Einbruch der Dunkelheit zurückfahren. Was passieren könnte. Was tatsächlich passiert? Wir werden misstrauisch aus umliegenden Fenstern beäugt (zwei mittelalte Frauen mit einer Keksdose!). Wir spielen mit ein paar Heimbewohnern Federball, bis uns die patrouillierende Polizeistreife von der Straße verweist.

Als im August 2018 der Nationale Widerstand in Chemnitz marschiert, miete ich mir ein Hotelzimmer, weil ich Angst habe, mich nach der Demo noch in den Zug zu setzen und schreibe über das staatliche Gewaltmonopol und meine Angst.  

2015, 2016, 2017, 2018, 2019, 2020: wir gehen auf die Straße. Wir setzen uns auf die Straße. Wir bemalen Schilder. Wir setzen uns vor Handykameras und drehen Videos. Wir verbringen unsere Wochenenden damit, uns zu StammtischkämpferInnen ausbilden zu lassen und über Optionen nachzudenken, den Einzugs der AfD in den Sächsischen Landtag zu verhindern.

Hilflose Akte der Solidarität. Wirkungslose Akte, einer antidemokratischen Dynamik etwas entgegenzusetzen.  

Ich hätte mir vor 20 Jahren nie träumen lassen, dass ich in den vergangenen 6 Jahren häufiger demonstrieren gehen würde als in den ersten 43 Jahren meines Lebens. Noch viel weniger hätte ich mir träumen lassen, nicht etwa für ein spezifisches Anliegen auf die Straße zu gehen, sondern für die Demokratie selbst. Auch ich verbrächte meinen Samstag lieber damit, meine coronabedingte Insolvenz abzuwenden, am nächsten Roman weiterzuarbeiten oder mit meinen drei Kinder Ausflüge zu machen. Auch Jule NagelIrena Rudolph-Kokot und Jürgen Kasek haben Familien, Privatleben und bestimmt Besseres vor in diesen Tagen, Wochen, Monaten, Jahren, in denen sie konsequent wieder und wieder gegen rechte Aufmärsche mobilisieren, bei jedem Wetter da draußen stehen und versuchen, etwas zu bewirken gegen die, die die Demokratie mit den Füßen treten und letztendlich abschaffen wollen.

Und dann sind da ja noch diejenigen, die – strategisch, ignorant oder aus Naivität – daran teilhaben, dass die Zersetzung der Demokratie in Sachsen so besonders erfolgreich verläuft. Indem sie genau die ihnen zugedachte Rolle übernehmen, wie MDR Kultur-Reporterin Sylvia Stadler, die am Sonntag zu berichten weiß, dass es sich bei „Querdenken“ um einen Querschnitt der Bevölkerung gehandelt habe, um Menschen aus Heidelberg, Krefeld, Cottbus. Wenn sie ihnen zugesteht, mitnichten Coronaleugner zu sein, sondern Menschen, „denen die Maßnahmen zu weit gehen“, ignoriert sie, dass es diesen Menschen offenbar nicht zu weit geht, dass sie unter wehenden Reichsfahnen und neben NPD-Funktionärenprotestieren. Diese Verharmlosung kennen wir hier schon. Viel symptomatischer an Frau Stadlers Berichterstattung ist aber ihr Stillschweigen gegenüber dem Versagen des staatlichen Gewaltmonopols. Die Bereitschaft, sich vom vermeintlichen Anliegen einer Demonstration Sand in die Augen streuen zu lassen und menschelnd über eine Kundgebung zu berichten, deren implizites Ziel darin bestand, die Demokratie und ihre Institutionen außer Kraft zu setzen.

Der eigentliche Erfolg der Veranstaltung war ihre Machtdemonstration. Sie können sich inzwischen die Straßen holen. Mit freundlicher Unterstützung des Sächsischen Innenministeriums, der sächsischen Polizei- und Justizbehörden und letztendlich des sächsischen Ministerpräsidenten. Und das nicht mehr nur noch in Freital, Heidenau und anderswo in der sächsischen Provinz. Sie können sich den Leipziger Ring holen und das haben sie getan.

Liebe entsetzte Freunde in Ost und West, auf Facebook, Twitter und im wirklichen Leben, Ihr habt ja Recht: An Sachsen zeigt sich, wie rechte Mobilisierung in der Lage ist, gesellschaftsübergreifend Menschen auf die Straßen zu bringen und dem Staat die Grenzen seiner Macht zu demonstrieren, wo er es zulässt. In Sachsen lässt er es willfähriger zu. Aber es reicht nicht, auf Sachsen zu starren wie das Kaninchen auf die Schlange und darauf zu bauen, dass die Glaswand vom Terrarium hält und ich den Zoo jederzeit wieder verlassen kann. Wer hier lebt und das nicht zulassen will, musste längst anerkennen, dass Redlichkeit nicht genug ist. Dass Demokratie, wo sie angegriffen wird, nach mehr verlangt als nach Bekenntnissen und situationsbedingt angepassten Facebook-Profilbildern.

Aber es gibt sie ja. Die Menschen in der Arena. Es gibt ihn ja, „den anderen Osten“. Menschen, Netzwerke, Institutionen, die weniger Angst haben oder trotz ihrer Angst handeln. Zivilgesellschaftliche Kräfte, die sich seit Jahren lokal und überregional gegen die Korrosion der Demokratie einsetzen. 

Das Aktionsnetzwerk „Leipzig nimmt Platz“, das seit Jahren gegen rassistische Aufmärsche und Demonstrationen mobilisiert.  Das Magazin Der Rechte Rand, dessen Recherchen und Analysen seit Jahrzehnten offenlegen wie rechte Parteien, Netzwerke, Kampagnen und Think Tanks an Themen der gesellschaftlichen ‚Mitte’ anknüpfen. Den Leipziger Fotografen Martin Neuhof, 2015 Mitbegründer des Bündnisses „NoLegida“, der auf seinem Blog „Herzkampf“ Menschen porträtiert, die sich gegen Rassismus, Homophobie und für eine gerechtere Welt einsetzen. Miteinander e.V. setzt fördert und berät seit über 20 Jahren demokratische Akteur/innen der Zivilgesellschaft und Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt. Das Recherchenetzwerk Polylux , das Menschen, Vereine, Initiativen und Projekte der kritischen Zivilgesellschaft vor Ort unterstützt.  DEMOC, das Zentrum  demokratischer Widerspruch e.V., beobachtet und analysiert, wie antidemokratische Strukturen funktionieren, warum sie erstarken und wie ihnen begegnet werden kann. Chronik LE dokumentiert neonazistische, rassistische und diskriminierende Aktivitäten in und um Leipzig. Um nur einige zu nennen, die nicht ohnmächtig einem Staat beim Versagen zugucken. Die nicht darauf warten, dass der sächsische Ministerpräsident oder der sächsische Innenminister oder die sächsischen Justizbehörden sich selber und der Welt erklären, wie gut sie funktionieren und wie erfolgreich sie die Demokratie beschützen, wo sie es nicht tun.

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