Täter*, Opfer*, Perspektiven. Gespräche, die niemand führen will.

Manchmal erfahren wir Dinge, die wir lieber nicht gewusst hätten. Weil das Wissen um sie eine Aufrechterhaltung des Status quo nicht zuzulassen scheint. Wenn nämlich das, was wir erfahren, ein eklatantes Fehlverhalten ist, und diejenigen, die darin involviert sind, in einer Beziehung zu uns stehen. Wenn in einem Verlag ein Text erscheint, der sich vermeintlich mit einer Grenzüberschreitung auseinandersetzt, diesen Text aber gegen das entschiedene Veto der Betroffenen veröffentlicht, dann kann ich diesen Sachverhalt nicht ignorieren oder als „hat nichts mit mir zu tun“ abtun. Weil es eben mit mir zu tun hat. Weil es die Beziehungsebene berührt. Es hat zu tun mit mir als Frau, Mutter und Tochter. Es hat zu tun mit mir als Christine Koschmieder, die Autorin beim Kanon Verlag ist. Und nicht zuletzt hat es zu tun mit mir als Alkoholikerin, die als Mutter und Gefährtin Verletzungen und Beschädigungen verursacht hat, die nicht rückgängig zu machen sind, aber danach verlangen, anerkannt zu werden. Als Kind suchtkranker Eltern gibt es Opferanteile in mir. Als selber trinkende Mutter gibt es definitiv Täterinnenanteile in mir.  Aus einem ähnlichen Grund tue ich mich schwer mit dem Täter-Opfer-Label. Seitens einiger Alkoholiker*innen kenne ich die Forderung, die Krankheit/das Defizit nicht zum bestimmenden, ausschließlichen Identitätsmerkmal zu machen. Die Alkoholikerin. Die Täterin. Das Opfer. Weil Alkoholikerinnen nebenbei auch noch Mütter sind und Mütter auch noch andere Eigenschaften haben als Kinder und Täter*innen eben auch noch Menschen sind.  Aus dieser Vielzahl von Eigenschaften heraus frage ich mich schon länger, wie ein Raum entstehen kann, in dem die Täter*innenperspektive reflektiert werden kann.

Mein autofiktionales Buch, in dem ich u.a. über meinen Alkoholismus, meine eigenen Beschädigungen und meine Täter*innenanteile nachdenke, ist im Kanon Verlag erschienen. Ich habe mit Gunnar Cynybulk, meinem Verleger, über diese Fragen gesprochen, und er hat zurückgefragt. Fragen, auf die ich mich von allein nicht eingelassen hätte, die mir Aufrichtigkeit abverlangt haben. Fragen, die mir nahegelegt haben, bestimmte Situationen anders zu erzählen. Nicht die sichere Karte auszuspielen. Nicht die zu erzählen, die ich gerne gewesen wäre, sondern die, die ich in dieser Situation war. Weniger aufrecht, weniger stabil, weniger unanfechtbar, weniger liebevoll als ich gerne erschienen wäre.

In sechs Wochen erscheint mein nächstes Buch. Es handelt von Scham, von Sexualität, Intimität und Aushandlungsprozessen.  Ein Kapitel heißt nicht umsonst „Gespräche, die niemand führen will“. Ich habe dafür drei Menschen getroffen, die sexualisierte Grenzüberschreitungen erlebt haben und bereit waren, mit mir darüber zu sprechen. Diese Menschen stehen mir mehr oder weniger nahe. Sie wussten, dass das, worüber wir sprechen, Eingang in ein Buch finden sollte. Die Gespräche fanden unter der Zusicherung statt, dass alles, was ich aus dem Material mache, ihnen vorgelegt wird und ihrer Freigabe unterliegt. Dass kein Satz ohne ihre Zustimmung veröffentlich wird und ich den Text so lange überarbeite, bis sie gut damit leben können und ihn freigeben. Dieser Prozess war herausfordernd. Ich konnte nicht immer nachvollziehen, warum eine Gesprächspartnerin bestimmte Formulierungen und Aussagen nicht im Text haben wollte. Eine Gesprächspartnerin hat mir ein paar Tage später mitgeteilt, dass sie nicht mehr möchte, dass ich ihre Geschichte und ihre Aussagen verwende. Ich habe mich dabei ertappt, sie davon überzeugen zu wollen, wie wichtig ihre Zeug*innenschaft ist, dass wir Menschen brauchen, die Beschämung, Bagatellisierung und Victim-Blaming zurückweisen, die Täter mit ihrem gefühlten Entitlement nicht mehr davonkommen lassen. Wie kann sie diesem wichtigen Anliegen ihre Erfahrung nicht zur Verfügung stellen? – Ja. Ich habe es selbst gemerkt. Zum Glück. Turning a no into a yes. Das war exakt, was ich versucht habe. Weil mir mein Anliegen so wichtig war. Aber es war eben nur mein Anliegen, nicht ihres. Der Wert meiner Beziehung zu meinem Gegenüber besteht auch darin, dass es sich darauf verlassen kann, seine Bedürfnisse nicht gegen mich verteidigen zu müssen. Ich habe den Text umgeschrieben.

So weit zum Entstehungs- und Aushandlungsprozess. Inhaltlich fragt das Kapitel nach Entitlement, nach der verinnerlichten Anspruchshaltung, die dadurch entsteht und fortgesetzt wird, dass derjenige, der eine Grenzüberschreitung begangen hat, nicht nur davon ausgehen kann, dass er ohne Konsequenzen davonkommt, sondern nicht einmal mit einer Konfrontation rechnen muss. Entitlement als eine aufgrund bestärkender Indizien empfundene Anspruchshaltung, dass ich mich auf einen bewährten Bagatellisierungsmodus verlassen kann, der alles, was ich getan habe, um meine Haftbarkeit und Verantwortung zu reduzieren – Alkohol trinken, verunsichert/triebgesteuert/enthemmt zu sein – dazu verwendet wird, mich zu entlasten. Die “Boys will be boys”-Entitlement-Dauerschleife. Insofern ist es tatsächlich wichtig, auf Täterperspektiven zu gucken. Aber nicht, um Verständnis für ihr Tun zu entwickeln, sondern um dafür zu sorgen, dass sich an der Grundlage für dieses Tun etwas ändert. Weil es nämlich nicht hilfreich ist, »wenn wir über Dinge hinwegsehen und Grenzüberschreitungen vergeben, bevor wir sie richtig verstanden haben. (…) Egal, wie wir unser Zusammenleben künftig gestalten, wir müssen jedenfalls eine neue gesellschaftliche Infrastruktur errichten und lernen, den Schmerz und das Unbehagen, die wir früher lebendig begraben mussten, tatsächlich zu verarbeiten.« Laurie Penny, deren Buch Sexuelle Revolution das Zitat entstammt, führt nicht aus, wie das gelingen kann. Aber ich glaube, dass es zwingend notwendig ist, dass wir uns darüber verständigen, was wir wider besseres Wissen zu verantworten haben, unter welchen Umständen es dazu gekommen ist und wessen Belange davon berührt sind.

Wenn ich mich auf Scham einlasse, sind die Stellen, an denen es etwas zu sehen gibt, oft die, die ich nicht angucken will. Weil Scham gern da entsteht, wo wir dem Bild, das wir gerne von uns selbst hätten, nicht entsprechen. Wo wir längst nicht so verantwortungsbewusst, so loyal, so solidarisch und so kritikfähig handeln wie wir es gerne wären. Wo wir anerkennen müssen, unserem eigenen Anspruch nicht gerecht geworden zu sein. Und es so viel einfacher wäre, das abzustreiten, statt die eigene Unzulänglichkeit auszuhalten und dafür gerade zu stehen: ja, das bin ich und so habe ich gehandelt.  Es tut weh, wenn jemand, der mich zu dieser Aufrichtigkeit ermutigt hat, nun selbst eine zutiefst falsche Entscheidung getroffen und noch dazu zu lange gebraucht hat, dazu zu stehen und das ganze Ausmaß zu offenbaren. Habe ich gerade widerstreitende Gefühle, wie ich mit meinem Verlag umgehen soll? Ja. Reduziere ich meinen Verlag auf seine Fehlentscheidung, seine fehlende Aufrichtigkeit und seine mangelhafte Auseinandersetzung im Umgang mit sexualisierter Gewalt und Opferperspektiven? Nein.

Seit Gründung des Kanon Verlags 2020 sind dort Stimmen veröffentlich worden, die gerade nicht von einer Fortschreibung patriarchaler Interessen zeugen. Gayle Jones, „one of the most versatile and transformative writers of the 20th century“, in deren Roman Corregidora transgenerationales Trauma, häusliche und sexualisierte Gewalt, Weiblichkeit und Mutterschaft thematisiert werden. Rebecca Donners Mildred, die mitder Biographie ihrer UrgroßtanteMildred Harnack mit der Legende vom rein männlichen Widerstand gegen Hitler bricht. Ingke Brodersen, die in Lebewohl, Martha die Lebenswege dreier verfolgten Frauen rekonstruiert. Katharina Volckmer, deren feministischen Monolog Der Termin Chris Kraus (I love Dick) einen „längst überfälligen, radikalen Eingriff“ nennt. Steine schmeißen, der Debütroman von Sophia Fritz, die wie kaum eine andere den Finger auf Beziehungen und Bedürftigkeit und das,  was wir performen, um etwas zu kriegen, das eigentlich einen viel höheren Preis hätte, legt. Die Entscheidung, solche Bücher zu verlegen – reines Profitinteresse, getragen von einer an und für sich frauenverachtenden Täterstrategie? Nein, ich will die katastrophal falsche Verlagsentscheidung, einen Text als kritische Reflexion einer Tat zu verkaufen, wenn die von der Tat betroffene Person dem explizit widersprochen hat, nicht entschuldigen oder bagatellisieren. Sowohl als Autorin als auch als Freundin des Verlags bin ich verunsichert, wütend und enttäuscht. Aber das ändert nichts daran, dass dieser Fehler für mich auch künftig nicht die ausschließliche Eigenschaft meines Verlags bleiben wird. Ich wünsche ihm und mir, dass wir zu unterscheiden lernen, wo es angebracht ist, sich auf gewahrte Persönlichkeitsrechte und Kunstfreiheit zu berufen, und wo es um etwas anderes geht: um transformative Gerechtigkeit und Fragen der Community Accountability  (Konzepte, mit denen ich mich gerade erst zu befassen anfange). Und dass wir uns in solchen Fällen Menschen an die Seite holen, die die entscheidenden Fragen stellen, die es braucht, um verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen.

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